Im Folgenden geht es um regelmäßige Tachykardien, also entweder VT (ca. 80 %) oder SVT mit Schenkelblock (ca. 15 %) bzw. antegrader Leitung über eine akzessorische Bahn (ca. 5%). Bei deutlich unregelmäßigen Breitkomplextachykardien ist von Vorhofflimmern, -flattern oder einer Vorhoftachkardie mit AV-Block auszugehen.
In den letzten 50 Jahren sind diverse EKG-Kriterien und Algorithmen zur Differenzierung VT vs. SVT identifiziert und publiziert worden. Sie alle teilen das Schicksal einer sehr hohen Treffsicherheit in den jeweiligen Erstpublikationen, aber merklich geringerer diagnostischer Genauigkeit so etwa in der Größenordnung von 70-80 % bei späteren Vergleichen an anderen Kollektiven (Vereckei A 2014).
ESC-Leitlinie 2019
Angesichts der Unsicherheit, die bei allen unten aufgeführten Algorithmen in Kauf genommen werde muss, halte ich mich bei der Einordnung von Breitkomplextachykardien im ersten Anlauf an die Empfehlungen der SVT-Leitlinie der ESC von 2019:
1. Klinik und (fokussierte) Anamnese
Bei hämodynamischer Instabilität sofortige elektrische Kardioversion und alle weiteren Überlegungen später. Myokardinfarkt, Angina oder Herzinsuffizienz in der Anamnese machen eine VT noch wahrscheinlicher (pos. prädiktiver Wert >95 %), eine laufende Medikation mit Antiarrhythmika beeinflusst die Aussagekraft einiger EKG-Kriterien und ein erreichbares Vor-EKG im Sinusrhythmus erleichtert die Differentialdiagnose der Tachykardie.
2. AV-Dissoziation
Eine AV-Dissoziation gilt als wichtigstes Kriterium für eine VT, ist allerdings nur bei gut 50 % von ihnen nachweisbar. Im EKG zeigen sich dann dissoziierte P-Wellen (am ehesten sichtbar in V1 oder Ableitungen mit niedriger QRS-Amplitude, oft inferior, evtl. auch Lewis-Ableitung) und/oder Capture- oder Fusion-Beats. Und tatsächlich, in unserem EKG-Beispiel meint man in den inferioren Ableitungen langsamere P-Wellen zu erkennen. Am deutlichsten demaskieren sie sich dann aufgrund der geringen QRS-Amplitude in aVR:
3. QRS-Dauer
Eine QRS-Dauer >140 ms bei RSB oder >160 ms bei LSB spricht für eine VT. Bei Präexzitation und unter IA- oder IC-Antiarrhythmika ist dieses Kriterium wenig hilfreich. In unserem Beispiel-EKG (QRS 140 ms) ist es nicht erfüllt.
4. QRS-Achse (No man’s land)
Eine extreme Abweichung der QRS-Achse nach rechts und kranial (-90 ° bis ±180 °) erkennt man im EKG an überwiegend negativen QRS-Potenzialen in Abl. I und aVF. Eine solche Hauptrichtung des QRS-Vektors spricht sehr für eine VT, im Jargon wird sie gerne als Nord-West-Achse oder No man’s land bezeichnet.
5. Konkordanz in den BWA
Negativen Konkordanz (alle QRS in V1-6 überwiegend negativ) ist nahezu diagnostisch für eine VT (Spezifität >90 %), kommt aber nur bei 20 % der VT vor. Positive Konkordanz kann auf eine VT oder eine antidrome Tachykardie mit links-posteriorem oder links-lateralem Pathway hinweisen.
6. RSB-Morphologie
Ableitung V1: Typisch für eine SVT sind rSR′-, rSr′- oder rR′-Konfiguration, typisch für eine VT sind ausgeprägte R-Zacken (monophasisches R, Rsr′, biphasischer qR-Komplex oder breites R >40 ms). Eine gekerbte R-Zacke (M-Muster) spricht für eine VT, wenn sie links höher ist als rechts (bad rabbit). Ein höheres rechtes Kaninchenohr (good rabbit) ist zwar charakterissch für eine SVT mit RSB, schließt eine VT aber nicht aus.
Ableitung V6: Typisch für eine SVT ist eine R/S-Ratio >1, für eine VT <1 (rS- und QS-Muster). Eine R/S-Ratio <1 ist bei SVT mit RSB selten, allenfalls bei Linkslagetypen im Sinusrhythmus.
7. LSB-Morphologie
Ableitung V1: Starke Prädiktoren für eine VT sind breite R-Zacken, Slurring oder Notching im absteigenden S-Schenkel und ein verzögerter Nadir der S-Zacke.
Ableitung V6: Q-Zacken und QS-Komplexe in V6 sprechen für eine VT.
Wellens-Kriterien
Die erste ausführlich begründete Strategie zur Unterscheidung zwischen schenkelblockierter SVT und VT stammt aus den späten 1970er-Jahren vom EKG-Papst Hein Wellens. Für eine VT sprechen demnach
- AV-Dissoziation, Capture- oder Fusion-Beats, negative oder positive Konkordanz in den BWA und eine geringere QRS-Breite während der Tachykardie im Vgl. zum Normal-EKG sowie
- bestimmte QRS-Kriterien bei RSB- oder LSB-Bild während der Tachykardie (s. Grafik).
(Wellens HJ et al. 1978 und Wellens HJ, Brugada P 1987)
Brugada-Algorithmus
1991 publizierten die Brüder Pedro und Josep Brugada ihren Algorithmus zur Differentialdiagnose der Breitkomplextachykardie, der in der prospektiven Validierungsstudie an insgesamt 554 EKG (384 VT und 170 SVT) eine Sensitivität von 0.987 und eine Spezifität von 0.965 für VT bzw. 0.965 und 0.987 für SVT bewies. Nur 11 der 554 Tachykardien wurden fehlinterpretiert. (Brugada et al. 1991).
- Kein RS-Komplex (RSR zählen nicht!) in irgendeiner BW-Ableitung → VT (sonst weiter mit 2)
- RS-Intervall (Beginn R bis Nadir S) >100 ms in einer BW-Ableitung → VT (sonst weiter mit 3)
- AV-Dissoziation → VT (sonst weiter mit 4)
- Klassische VT-Kriterien (s. Abb. 1) sowohl in V1-2 als auch in V6 → VT (sonst SVT)
Vereckei- oder aVR-Algorithmus
2007 schlugen András Vereckei und seine Kollegen aus Budapest einen neuen Algorithmus vor, den sie aus 287 Tachykardien abgeleitet hatten (Vereckei A et al. 2007). Er wird meist als Vereckei-Algorithmus bezeichnet:
- AV-Dissoziation → VT (sonst weiter mit 2)
- Initiale R-Zacke in aVR → VT (sonst weiter mit 3)
- QRS-Komplex untypisch für Schenkelblock oder Hemiblock → VT (sonst weiter mit 4)
- Vi/Vt ≤1 → VT (sonst SVT) (Vi/t = Amplitude der initialen/terminalen 40 ms des QRS-Komplexes in aVR)
2008 stellten sie einen modifizierten und nur noch auf die Ableitung aVR bezogenen Algorithmus vor (Vereckei A et al. 2008). Er firmiert meist unter Vereckei-2- oder aVR-Algorithmus:
- Initiale R-Zacke in aVR → VT (sonst weiter mit 2)
- Initiale r- oder q-Zacke >40 ms in aVR → VT (sonst weiter mit 3)
- Kerbe im absteigenden Schenkel eines überwiegend negativen QRS-Komplexes → VT (sonst weiter mit 4)
- Vi/Vt ≤1 → VT (sonst SVT) (Vi/t = Amplitude der initialen/terminalen 40 ms des QRS-Komplexes in aVR)
RWPT Kriterium (R-wave peak time)
2010 publizierten Luis Fernando Parva und Kollegen aus Kolumbien ihre Analyse von 218 Breitkomplextachykardien (davon 163 VT), bei denen sich eine RWPT (Beginn R-Zacke bis zum ersten Umschlagspunkt) ≥50 ms in Ableitung II als trennscharfes Kriterium für VT erwiesen hatte (Pava LF et al. 2010). Die sehr guten Werte für Sensitivität (93,2 %), Spezifität (99,3 %), PPV (98,2 %) und NPV (93,3 %) in dieser Studie konnten bei einem unabhängigen Vergleich verschiedener Methoden allerdings nicht verifiziert werden, ähnlich wie bei den anderen Algorithmen (Jastrzebski M et al. 2012).
Zurück zum Beispiel
Orientiert man sich an den ESC-Leitlinien, würde unser EKG wegen AV-Dissoziation und Q-Zacke in V6 als VT klassifiziert werden. Die gleichen Merkmale würden auch bei Anwendung der Wellens-Kriterien zur VT führen. Legt man den Brugada-Algorithmus zugrunde, wird in Schritt 3 ebenfalls die AV-Dissoziation zur VT-Diagnose führen. Im 1. Varecki-Algorithmus wäre es Schritt 1 (ebenfalls AV-Dissoziation), auch im 2. Varecki- oder aVR-Algorithmus wäre es Schritt 1 (initiale R-Zacke). Bei Verwendung der RWPT (hier ca. 40-45 ms) würde die Tachykardie fälschlich als SVT klassifiziert.
Therapie
Hämodynamisch instabil → Kardioversion
Hämodynamisch stabil:
Ätiologie unklar → Vagusmanöver (vorzugshalber liegend mit Beinhochlagerung)
Sofern frustran und keine Präxzitation im Sinus-EKG → Adenosin
Sofern frustran → Amiodaron i. v.
Sofern frustran → Kardioversion
Kein Verapamil, solange die Ätiologie unklar ist
Bei nachgewiesener SVT Therapie wie bei Schmalkomplextachykardie (Vagusmanöver oder Adenosin oder Betablocker oder Verapamil oder Diltiazem)