Abnorme ST-Hebungen in den Brustwandableitungen können Ausdruck eines akuten STEMI oder eines alten VW-Aneurysmas sein und manchmal ist es nicht gerade trivial, das zu differenzieren. Das beste Unterscheidungsmerkmal ist die Höhe der T-Welle in Relation zum QRS-Komplex. Einfache Formeln aus der Arbeitsgruppe um Stephen W. Smith können bei der Ersteinschätzung hilfreich sein, aus seinem großartigen ECG-Blog stammen auch die folgenden EKG-Beispiele:
Dieses Aufnahme-EKG wurde 3 Std. nach Beginn typischer Infarktschmerzen registriert, bei einem männlichen Patienten in den 50ern mit altem VW-Infarkt und RIVA-Stent. Entscheidende Frage: Ist das nur die alte VW-Narbe oder eine VW-Narbe mit Hinweisen für eine akute Re-Okklusion?
Die „Smith-Klein-Rule“
Natürlich kann das EKG diese Frage nicht mit Gewissheit klären, es kann aber erstaunlich wertvolle Hinweise liefern. Smith hat 2005 einschlägige EKG verglichen und die Relation der T-Wellen-Amplitude zur QRS-Amplitude in V1-4 als besten Diskriminator identifiziert. Merke: je höher die T-Wellen im Vergleich zu den QRS-Komplexen, desto höher die Wahrscheinlichkeit eines akuten RIVA-Verschlusses. (Smith SW 2005)
T in V1 + T in V2 + T in V3 + T in V4
⎯⎯⎯⎯⎯⎯⎯⎯⎯⎯⎯⎯⎯⎯⎯⎯⎯⎯⎯⎯⎯ >0.22 ⇒ akuter RIVA-Verschluss
QRS in V1 + QRS in V2 + QRS in V3 + QRS in V4
Später hat die Arbeitsgruppe um Smith festgestellt, dass es schon reicht, wenn der Quotient in irgendeiner Ableitung V1-4 >0.36 beträgt. (Klein LR et al. 2015)
T
⎯⎯ >0.36 in irgendeiner Ableitung V1-4 ⇒ akuter RIVA-Verschluss
QRS
Für die zutreffende Erkennung eines akuten VW-Infarktes hat die Arbeitsgruppe im direkten Vergleich für Regel 1 (Quotient der Summen) eine Sensitivität von 91.5 %, eine Spezifität von 68.8 %, und eine Vorhersagegenauigkeit von 86.7 % ermittelt, für Regel 2 (max. Quotient in einer der Abl. V1-4) eine Sensitivität von 91.5 %, eine Spezifität von 81.3 %, und eine Genauigkeit von 89.3 %.
modifiziert von Dr. Smith's ECG Blog
Die nebenstehenden Beispiele erfüllen diese Voraussetzung und die Anwendung der Smith-Klein-Rules ergibt folgende Ergebnisse:
EKG li.:
Regel 1 (T1+T2+T3+T4) " (QRS1+QRS2+QRS3+QRS4) = 0.15 (also deutlich <0.22)
Regel 2 T/QRS1 = 0.15, T/QRS2 = 0.17, T/QRS3 = 0.13, T/QRS4 = 0.09 (also alle deutlich <0.36)
EKG re.:
Regel 1 (T1+T2+T3+T4) " (QRS1+QRS2+QRS3+QRS4) = 0.56 (also deutlich >0.22)
Regel 2 T/QRS1 = 0.48, T/QRS2 = 0.00, T/QRS3 = 0.83, T/QRS4 = 0.98 (mehrere also deutlich >0.36)
Zurück zum Beispiel-Patienten
Wende ich die Smith-Klein-Rules auf unseren eingangs geschilderten Patienten bzw. dessen EKG an, kommen ich zu Folgendem:
Regel 1 (T1+T2+T3+T4) " (QRS1+QRS2+QRS3+QRS4) = 0.27 (also >0.22)
Regel 2 T/QRS1 = 0.09, T/QRS2 = 0.21, T/QRS3 = 0.28, T/QRS4 = 0.39 (in V4 also >0.36)
Meyers als Autor dieses Fallbeispiels kommt übrigens für Ableitung V4 nur auf einen T/QRS-Quotienten von 0.32, was die auch mit diesen Regeln verbleibende Unsicherheit deutlich macht.
Im Fallbeispiel betrug das Troponin bei Aufnahme 24 ng/l (obere Referenzgrenze 20 ng/l), nach 2 Stunden 1751 ng/l und bei den nächsten Kontrollen 2955 und 12216 ng/l. Wegen anhaltender Thoraxschmerzen wurde mehr Morphium gegeben und per CT eine Aortendissektion ausgeschlossen. Eine Akut-Angiografie wurde mit Verweis auf die fehlenden STEMI-Kriterien abgelehnt. Sie erfolgte dann 12 Stunden nach Aufnahme und zeigte >70 %ige Stenosen fast aller Koronarien, darunter eine 95 %ige des medialen RIVA. Eine Culprit Leson wurde negiert, eine Intervention erfolgte nicht. Das Kardio-MRT nach einigen Tagen zeigte eine EF von 27 % bei großer Akinesie im RIVA-Versorgungsgebiet.
Ohne das im Einzelnen kommentieren zu wollen, zeigt dieses Beispiel den potenziellen Nutzen einer differenzierten EKG-Beurteilung in solchen Situationen in meinen Augen doch sehr deutlich.